Vom klugen Hasen und vom dankbaren Ziegenbock

Es waren einmal ein Hase und ein Ziegenbock, die hatten Freundschaft miteinander geschlossen. Sie trafen sich jeden Tag draussen vor dem Dorf und erzählten einander die Neuigkeiten, die es gab.

Eines Tages, als der Hase in einer kleinen Erdhöhle schlief, hörte er draussen Schritte vorbeitappen. Er wachte auf und spitzte die Ohren. Da war ein Löwe, der sagte zu einem andern: "Morgen werde ich in jenes Dorf gehen und werde mir den Ziegenbock holen, denn ich habe schon lange kein Ziegenfleisch mehr gefressen." Der Hase verhielt sich still, bis die beiden Löwen weitergegangen waren. Und am Morgen sprang er aus seiner Höhle heraus und lief zu dem Ziegenbock, der auf einer Wiese vor dem Dorf frass. "Freund Ziegenbock", sagte der Hase, "ich habe heute nacht gehört, dass ein Löwe kommen und dich fressen will." - "Das werde ich gleich meinem Herrn, dem Dorfältesten, sagen."

Und damit ging der Ziegenbock zur Hütte seines Herrn und sagte: "Herr, in der nächsten Nacht will ein Löwe kommen und mich holen." - "Lass mich nur machen", sagte sein Herr, "wir werden den Löwen schon umbringen."

Und der Herr ging hin und grub rundherum um seine Hütte und um den Pferch eine Grube, deckte sie ab, damit keines seiner Tiere hineinstürze, und ging dann aufs Feld.

Dem Ziegenbock war nicht ganz wohl in seiner Haut, denn er hatte nicht gesehen, wie sein Herr die Falle baute. Als er ums Gehöft herumging, sah er die zugedeckte Grube und dachte: "Die hat sicher unser Herr gebaut, um mich vor dem Löwen zu verstecken." Und er suchte eine Lücke in der Abdeckung, sprang in die Grube hinunter, und weil es da unten angenehm kühl war, schlief er ein und hörte nicht, wie am Abend sein Herr die Grube abdeckte.

Mitten in der Nacht kam der Löwe, und da er von der Grube nichts wusste, fiel er hinunter und mitten auf den Ziegenbock hinauf. Der erschrak gewaltig, als auf ihn plötzlich der Löwe herunterstürzte, aber er fasste sich schnell und sagte: "Wenn du mich frisst, Löwe, wirst du so dick werden, dass du aus dieser Grube nie mehr hinauskommst. Aber wenn du mich verschonst, werde ich meinen Herrn bitten, dass er dich morgen herausholt und dir eine Ziege schenkt."

Der Löwe wollte sich auf so etwas nicht einlassen, aber er war klug genug, um zu verstehen, dass er mit einem dicken Bauch nie aus der Grube herauskäme.

Während nun der Löwe noch nachdachte, was er tun solle, und während der Ziegenbock vor Angst zitterte, kam der Hase gerannt. Der Hase hatte Sorge um seinen Freund gehabt und wollte nachsehen, wie die Dinge stünden. Als er sah, dass der Ziegenbock bei seinem Feind in der Grube sass, sagte er: "He, ihr beiden da unten. Ich will euch helfen. Ich werde ein Seil holen und euch herausziehen."

Und damit sprang er über die Grube, holte aus der Hütte ein Seil und warf ein Ende davon in die Grube hinunter. Da wollte gleich der Löwe an dem Seil herausklettern, aber der kluge Hase sagte: "Nein, du bist mir zu schwer." Und damit liess er das Seil in die Grube hinunterfallen. "Löwe, wirf mir das Seil wieder herauf. Zuerst muss der Ziegenbock heraufklettern, und dann werden wir zu zweit das Seil halten, und du kannst nachkommen."

Da gab der Löwe murrend nach, und der Ziegenbock kletterte an dem Seil aus der Grube. Kaum war er heraussen, da warf der Hase das Seil wieder hinunter und rief: "Bleib nur drunten und warte bis morgen früh!"

Und als in der Dämmerung der Herr des Ziegenbocks ins Freie kam, sah er den Löwen in der Grube liegen, nahm seinen Speer und tötete ihn.

Die Geschichte von dem Hasen, der den Löwen hereingelegt hatte, sprach sich jedoch unter den Tieren herum, und der andere Löwe, der Freund des getöteten, wurde sehr zornig auf den Hasen und sagte: "Warte nur, ich erwische dich schon noch. Und dann werde ich meinen Freund rächen."

Und er legte sich vor die Höhle des Hasen, so dass dieser nicht herauskonnte, und sagte: "Entweder du kommst heraus, oder du wirst hier verhungern."

Der Ziegenbock aber wunderte sich, als den ganzen Tag sein Freund Hase nicht zu sehen war. Und am Abend machte er sich auf, um den Hasen zu suchen. Aber schon von weitem sah er einen Löwen vor dem Loch des Hasen liegen. Da drehte er um, ging nach Hause und sagte zu seinem Herrn: "Ein Löwe will den Hasen fressen, der mir das Leben gerettet hat." - "Was kümmert mich ein Hase", sagte der Herr, "es gibt genug davon. Bleib du in deinem Pferch und kümmere dich nicht um andere!" - "Nein", sagte der Ziegenbock, "der Hase ist mein Freund, und wenn du nicht mitkommst, gehe ich allein, um mit dem Löwen zu kämpfen."

Das wollte der Mann doch auch nicht, und so nahm er seinen Speer und ging mit dem Ziegenbock dorthin, wo der Löwe lag. "Warte, Herr!" sagte der Ziegenbock. "Wenn uns der Löwe kommen hört, wird er davonlaufen. Ich werde mich von der andern Seite nähern, dann kannst du dich hinter den Löwen schleichen und ihn töten."

Und der Ziegenbock ging mutig von der andern Seite auf den Löwen zu, und als der sich zum Sprung duckte, traf ihn der Speer des Mannes, und er starb. Der Herr aber lobte seinen Ziegenbock wegen des Mutes und den Hasen wegen seiner Klugheit.

Quelle: Märchen aus Brasilien, rororo-Verlag (Reihe Diederichs Märchen der Weltliteratur)

Seitenanfang

Zurück